Im weitesten Sinne sind Geschichten eine Erzählung über etwas. Die Anthropologie hat sich mit Geschichten und Geschichtenerzählen in verschiedenen Formen beschäftigt, denn in gewisser Weise lässt sich vieles als eine Art Geschichte auffassen: von Paradigmen, großen Theorien, Meistererzählungen, Mythen, Legenden, Märchen und Volksmärchen hin zu Lebensgeschichten und biografischen Narrativen, der Kunst und Literatur, aber auch vermeintlich historischem Wissen, politischem Populismus und vielem mehr. Das Erzählen von Geschichten ist essentiell, da wir dadurch Dingen und Menschen Bedeutung zuschreiben und erst lernen, sie auf eine gewisse Art zu verstehen. So gesehen sind Geschichten grundlegend pädagogisch. Im Hinblick auf die verschiedenen Krisen dieses Jahrhunderts müssen Pädagog*innen nicht nur herkömmliche Geschichten hinterfragen, sondern auch zu neuen Geschichten ermutigen, sie vermitteln und mitgestalten. Dabei kann die Anthropologie einen wichtigen Beitrag leisten.
Geschichten sind fundamental für das, was uns als Menschen ausmacht (Jackson 2002). Jede Gesellschaft hat ihre Geschichten, Legenden, Sagen, Märchen und Erzählungen, und sie verbreiten sich durch mündliche, schriftliche und inszenierte Mittel, einschließlich Performance, Film und andere Kunstformen, aber auch durch Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Unser eigenes Leben ist zutiefst in Erzählungen verwurzelt. Das Erzählen von Geschichten beinhaltet das Teilen und Interpretieren von Berichten über Ereignisse, Dinge, Ideen und so weiter, in dem Sinn erschafft es erst die Welt um uns herum. Jeder Mensch hat Geschichten, erzählt Geschichten und ist Geschichten verschiedener Art ausgesetzt und interpretiert sie. Der Anthropologe Tim Ingold betont, dass ein großes Potential der Anthropologie ihre Fähigkeit ist, transformative Geschichten zu erzählen (2013) und somit Anthropologie auch immer Bildung ist (2018).
„Heutzutage pädagogisch zu arbeiten, bedeutet, mit einer drängenden Frage konfrontiert zu werden: Inwiefern ist das, was und wie ich unterrichte, der Zeit angemessen, in der wir leben?“
Die Pädagogin Keri Facer leitet ihren Artikel “Storytelling in troubled times: What is the role for educators in the deep crises of the 21 century?" (2019) mit dieser treffenden Frage ein. Der Artikel beginnt mit der Benennung einiger der Schwierigkeiten, mit denen die Welt heute konfrontiert ist: die sich wiederholenden Wirtschaftskrisen, die Krise der Demokratie, der Aufstieg des Nationalismus, der Anstieg der erzwungenen Migration, der biotechnologische Fortschritt, der verändert, was es heißt, Mensch zu sein, die Klimakrise und vielem mehr. Dennoch betont Sie anschließend das breite Spektrum an Möglichkeiten und Ideen für ein alternatives Leben auf einem unruhigen Planeten, die trotz oder wegen dieser Schwierigkeiten bereits existieren. Hier findet Sie radikale Experimente in der Wissensproduktion und Pädagogik, die notwendig sein könnten, um in diesen komplexen Zeiten zu leben. Dabei fokussiert Sie sich speziell auf Rolle von Pädagog*innen, um die Relevanz des Geschichtenerzählens zu veranschaulichen.
Wie bereits beschrieben ist das Erzählen von Geschichten grundlegend für unsere Lebensweise. Wir sind genauso sehr aus Geschichten gemacht wie wir Geschichten machen. Geschichten können unseren Horizont begrenzen als auch erweitern. Es gibt "große" Geschichten, Geschichten, die den Anspruch haben, als global gültige Wahrheiten verstanden zu werden, und es gibt "kleine" Geschichten, die nur lokal ihre Gültigkeit haben. Aber oft entspringen erstere auch nur aus den zweiteren, somit haben besonders die kleinen Geschichten oft große Relevanz (Tsing, 2015, Haraway, 2015). Das Erzählen von Geschichten ist wichtig, weil es uns zeigt, was ist, was war und was sein wird. Es gibt besonders große Geschichten, die heute erzählt werden, einige davon schon seit einiger Zeit, wie Geschichten von Fortschritt, Wachstum und Entwicklung, und es gibt Geschichten, die einmal passiert sind, aber nicht mehr erzählt werden, wie Geschichten von Auslöschung, Degradierung und Zerstörung.
Die 2018 erschiene Sonderausgabe über Geschichten in der anthropologischen Fachzeitschrift Etnofoor befasst sich mit der Frage, wie "das Geschichtenerzählen den Lebensrealitäten der Menschen gerecht werden kann, welche von Anthropolog*innen verstanden werden wollen" (Kaulingfreks & van den Akker 2018: 8f, eigene Übersetzung), sprich wie Geschichten und die Praxis des Geschichtenerzählens eine lebendige und engagierte Weitervermittlung von Bedeutung und Sinn ermöglichen können. Da Anthropolog*innen seit jeher nicht nur mit der Art und Weise beschäftigt sind, Geschichten zu hören und zu versuchen, sie zu verstehen, sondern auch Geschichten zu kreieren, zu schreiben und für ein breites Publikum zu produzieren, können Pädagog*innen von anthropologischen Perspektiven profitieren und eigene Ideen und Projekte entwickeln, wie Geschichtenerzählen der Lebenswirklichkeit der Lernenden gerecht werden kann.
Die Verwendung von ethnographischen Methoden in der Lehrer*innenausbildung im Hinblick auf die eigene Person wurde in der Vergangenheit in der Literatur oft als zielführend wahrgenommen (Hayler 2011, Dyson 2007). Durch das Erzählen von Geschichten über sich selbst, die niemals nur Geschichten aus dem Leben einzelner Personen sind, können Lehrer*innen viel über ihre Unterrichtspraxis, ihr berufliches Wissen, ihre Bildungsforschung und vieles mehr lernen. Als eine Form des Erforschens ist das Schreiben, Interpretieren und Unterrichten von Autoethnographie eigentlich ein "Weg des Wissens", der ein hohes Maß an Selbstreflexion und die ständige Aufmerksamkeit für persönliche und strukturelle Verstrickungen einschließt. Hayler beschreibt es folgendermaßen:
„Die Autoethnographie bietet die Möglichkeit, die Verflechtungen zwischen Selbsterzählung und sozialen Strukturen auf fundierte Weise zu untersuchen und zu analysieren. Die narrative Analyse zeichnet hier die Art und Weise nach, in der die Teilnehmer*innen auf ihre persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen zurückgreifen, um ein berufliches Selbst zu entwickeln und zu beschreiben, während sie gleichzeitig auf unser soziales und berufliches Verständnis zurückgreifen, um unser Selbstverständnis zu bereichern. Diese Methoden haben mir erlaubt, die Verbindung und den Charakter der Biographie und Pädagogik von Lehrer*innen auf neue und erhellende Weise zu betrachten" (Hayler 2011: 103).
Reflexivität, Doing School, Narrative, Methoden
Dyson M. (2007). „My story in a proffesion of stories: auto etnography – an empowering methodology of educators.“ The Australian Journal of Teahcers Education. 32:1. (36-48).
Facer, K. (2019). „ Storytelling in troubled times: what is the role for educators in the deep crises of the 21 century?” Literacy 53:1. (3-13).
Ingold, T. (2013). Making. Anthropology, Archaeology, Art and Architecture. Routledge.
Ingold T. (2018). Anthropology and/as Education. Routledge.
Jackson, M. (2002) The Politics of Storytelling: Violence, Transgretion and Intersubjectivity. Museum Tusculanum Press.
Kaulingfreks, F., Marlous van den Akker (2018). „Source Introduction: Stories“. Etnofoor. 30:1. Stories. (7-11). http://etnofoor.nl/
Hayler. M. (2011). Autoethnography, Self-Narrative and Teacher Education. Sense Publishers.
Stoller, P. (2018). „Storytelling and the Construction of Realities.“ Etnofoor 30:2. (107-112).
Jelena Kuspjak, Danijela Birt, Paul Sperneac-Wolfer (Kroatien & Österreich)
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